Yachtüberführungen sind keine Badeausflüge. Lesen Sie hier, wie es uns auf einem 2.500 Seemeilen-Törn nach Mallorca erging…

 

1 – Cuxhaven, Amerikahafen, Juni 2018

In Gedanken waren wir schon auf der Nordsee. Hätte sich das Schleusentor der Alten Süd in Brunsbüttel am Nachmittag nicht nur eine halbe Meile vor uns geschlossen, wir wären an diesem Abend sicher noch rausgekommen. Doch das riesige, schwarze Tor war ganz langsam zugefahren. Der Schleusenmeister hatte vielleicht einfach nicht warten wollen und deshalb nur ein Schiff geschleust: Die Toucan V, eine britische 50 Fuß-Yacht, die uns schon am Tiessenkai in Holtenau aufgefallen war, und von der man jetzt nur noch den Mast über die Mauern der Schleuse ragen sah.

Auf der Elbe lief zu diesem Zeitpunkt der letzte brauchbare Ebbstrom ab. Er hätte uns in einem Rutsch mit rausnehmen können, so wie er die Toucan V mit rausgenommen hat. Wir hätten die Nordsee und den Nordwind erreicht, hätten uns nachts an den Ostfriesischen Inseln vorbeigeschoben, am Tage an Hollands und Belgiens Küsten – und wären schon im Ärmelkanal gewesen.

Als wir endlich aus der Schleuse kamen wurde uns klar, dass wir die Tide verpasst hatten. Wir liefen noch die Elbe hinunter bis Cuxhaven und gingen in den Amerikahafen rein, bevor der Gegenstrom kam. Wir wollten nur diese Flut abwarten, wir glaubten fest an unseren Plan.

Als wir einen Wetterbericht auffingen, bekamen wir mit, dass sich die Bedingungen verschlechtert hatten. Besonders in der Flussmündung würden die Wellen hoch und steil gegen den Strom auflaufen. Es könnte hart werden, zu hart für dieses Schiff, für diese Crew. Wir brauchten etwas, bis wir einsahen, dass wir zu spät waren. Wären wir doch nur früher geschleust worden, dann wären die Dinge anders gekommen! Nun mussten wir warten, bis der Nordwest nachlassen würde. Nun hatten wir viel Zeit im Amerikahafen.

Bei Tag sah ich mich um: Ein weitläufiges, kaum befahrenes Hafenbecken. Ein paar Schwimmpontons für Yachten. Ein riesiger, roter Zollkatamaran. Das Trockendock der Mützelfeldwerft, auf dem der Name in dicken, weißen Lettern prangte. Ein Stückgutschuppen, ein Tiefkühllager, ein Kapitänshaus aus rotem Backstein mit einem Baum davor. Erst jetzt bemerkte ich dahinter einen verspielten Bau, eine Halle mit Turm, fast ein Schlösschen. An der Elbseite schloss ein Galeriegang an, der bis zum Anleger im Fluss reichte. Auf der anderen Seite, hinter dem Schlösschen ging es auch noch weiter: Ein lang gestrecktes Gebäude. Daneben grasüberwachsene Gleise. Ein Bahnsteig, von einer Holzpergola überdacht. Ohne Frage: Ich stand vor einem alten Bahnhof, der im Dornröschenschlaf lag.

Ich kletterte auf den Bahnsteig, blickte durch die Scheiben in eine der Hallen: Holzparkett. Eine Kuppel. Verzierte Türen. Gerahmte Schwarzweißfotos von Atlantikdampfern. Ich begriff, dass sich durch diesen vergessenen Ort einst Ströme von Auswanderern geschoben haben müssen. Was für ein Ereignis im Leben, im besten Zwirn, die letzten Meter auf europäischem Boden, noch ein Getränk zum Abschied an der Bar, dann den Galeriegang entlang, durch den Zoll, bereit zur Ausreise in die neue Welt. An der Kaimauer, im Elbstrom festgemacht, wartete die Imperator, der Passagierdampfer, der einen in die neue Welt – nach New York oder Boston bringen würde. Ich blickte in eine menschenleere Halle und doch sah ich auch sie, die Auswanderer.

Ein Schiffshorn riss mich aus den Gedanken. Ich ging die grasbewachsenen Gleise entlang und musste unwillkürlich schmunzeln. Niemand mehr da.